07.10.2013

Teekranz

Heute Nacht besucht sie mich. Meine Augen glänzen.
Endlich wieder... Wie ich sie vermisst habe.
Vorsichtig stelle ich die Tasse ab. Ich liebe es; das klirrende Geräusch, wenn sie auf die Untertasse trifft. Koste es aus. Koste jeden Moment aus, wie ich jeden Schluck des Tees ausgekostet habe.

Sie war schon lange nicht mehr hier... Viel zu lange.
Das will ich ihr sagen. Ich werde ihr sagen: "Julia, du warst schon viel zu lange nicht mehr hier."
Ich nehm es mir vor. Es soll kein Vorwurf sein, aber ich will es ihr sagen. Ob ich mich noch dran erinnern werde wenn sie da ist?

Sie hat es schon früher beherrscht, mich abzulenken. Damals, als die Aufträge kamen, das Haus schon sogut wie abbezahlt war, ich den reichen Firmenchefs die Hände schütteln durfte.
Das Geschäft boomte förmlich. Betriebe wollten Syncronisiert werden, Dispositionsabläufe optimiert, Verfahrenstechniken perfektioniert.

Es war so wundervoll... wie unser kleines Haus am Rand der Stadt. Zweihunderttausend Mark... Was waren schon zweihunderttausend Mark im vergleich zu den Provisionen? Die Banken rissen sich um den Kredit. Jede machte mir ein Angebot, eines Besser als das andere...

Die Tasse ist leer. Soll ich nochmal eingießen? Habe ich überhaupt noch Tee? Ich beuge mich vor. Erwische mich dabei, wie ich mit dem Löffel in dem kleinen Zuckerschälchen herumstochere. Die weiße Substanz auflade, hochhebe... sie dann langsam zurück in die Schale rieseln lasse.

Fast schon spühre ich ihre Hand, wie sie auf die Meine patscht – liebevoll, zärtlich, und mit einem lächeln auf den Lippen.
"Du Spielkind hast dich aber auch garnicht verändert."
Wie oft sie mich so getadelt hatte...
"Wie der kleine Junge, mit dem ich früher im Sandkasten gespielt habe"
Die Szene spielt sich vor meinem geistigen Auge ab. Als wäre sie hier, als stünde sie vor mir. Auf dem Teppich, den wir damals in Tunesien kauften, als Barbara noch klein war.

Ach ja Barbara... sie hat sich prächtig entwickelt. Über Barbara müssen wir auch reden wenn sie hier ist. Barbara ist längst verheiratet. Sie ist eben einfach nicht mehr das kleine Mädchen, dass sie einmal war. Sie wird immer mein kleines Mädchen bleiben.

Nagut, eine Tasse noch...
Ich leere die Kanne. Der Rest füllt das Gefäß nur halb. Ob Julia einen Tee gemocht hätte?
Ich schüttele den Kopf. Wenn sie einen mag, kann ich nochmal einen machen. Für mich soll die halbe Tasse genügen.
Julia hat nie Tee getrunken. Die Frau von Welt trinkt Kaffee. Ob sie deshalb nie schlafen konnte?

Nein, ich weiß schon, warum sie nie schlafen konnte.
Ich weiß schon, was sie durchgemacht hat...
Erst das mit ihrem Vater dann jene Nacht...
Bis heute hat man nichts gefunden. Die Polizei hat die Suche längst eingstellt. Vielleicht lebt der Mann heute auch garnicht mehr.

Meine Mine verfinstert sich. Dann schüttele ich den Kopf. Nein, das soll heute Abend nicht Thema sein. Und auch nicht der Großauftrag bei Obi.
Ich denke, jede Geschichte hat ihre Höhen und Tiefen. Wenn sie nachher kommt, wollen wir über das Schöne reden.

Ich leere die Tasse in einem großen Zug. Der Tee ist lauwarm, und ich mag keinen lauwarmen Tee. Die Glühbirne erhellt den Tisch nur schwach. Aber es reicht. Ich sehe die Untertasse, ich sehe die Zeitung, die schon seit so vielen Jahren jeden Tag auf dem Tisch liegt.
Ich sehe ihren Stuhl, der schon so lange nicht mehr benutzt wurde.

Heute Nacht kommt sie...
Wie ich sie liebe...

Es ist dunkel geworden. Und kalt... Der Winter lässt die Sonne kaum noch empor. Die Tage werden kurz, und draussen werden bereits die ersten Lichter aufgehängt.

Weihnachten... wie wir es liebten, zur Festzeit auf den Markt zu gehn. Dick verpackt natürlich, dass wir uns nicht erkälteten. Noch heute sehe ich manchmal Barbaras glänzende Augen, wenn ich vor dem großen Karussell stehe, und ich erinnere mich, wie auch schon Julia und ich auf den Tieren ritten, vergnügt, einander an der Hand haltend.

Kinder... Ich spielte Indianer, nahm das Pferd. Sie liebte den Flamingo, wollte schon immer mal einen echten sehen. 
Das haben wir getan... nicht im Zoo, nein, sondern damals, als wir nach Afrika flogen. Wow... das waren Zeiten...

Ich stehe auf. Der klapprige, alte Stuhl wird es wohl auch nicht mehr lange machen... Aber für heute reicht er noch.
Die Tasse, den Zucker und die Teekanne stelle ich in die Küche. Ich wasche sie nicht mehr.
Ich habe keine Zeit.

Ich muss mich fertig machen. Für Julia.

Heute Nacht besucht sie mich...