Heute Nacht besucht sie mich. Meine
Augen glänzen.
Endlich wieder... Wie ich sie vermisst
habe.
Vorsichtig stelle ich die Tasse ab. Ich
liebe es; das klirrende Geräusch, wenn sie auf die Untertasse
trifft. Koste es aus. Koste jeden Moment aus, wie ich jeden Schluck
des Tees ausgekostet habe.
Sie war schon lange nicht mehr hier...
Viel zu lange.
Das will ich ihr sagen. Ich werde ihr
sagen: "Julia, du warst schon viel zu lange nicht mehr hier."
Ich nehm es mir vor. Es soll kein
Vorwurf sein, aber ich will es ihr sagen. Ob ich mich noch dran
erinnern werde wenn sie da ist?
Sie hat es schon früher beherrscht,
mich abzulenken. Damals, als die Aufträge kamen, das Haus schon
sogut wie abbezahlt war, ich den reichen Firmenchefs die Hände
schütteln durfte.
Das Geschäft boomte förmlich.
Betriebe wollten Syncronisiert werden, Dispositionsabläufe
optimiert, Verfahrenstechniken perfektioniert.
Es war so wundervoll... wie unser
kleines Haus am Rand der Stadt. Zweihunderttausend Mark... Was waren
schon zweihunderttausend Mark im vergleich zu den Provisionen? Die
Banken rissen sich um den Kredit. Jede machte mir ein Angebot, eines
Besser als das andere...
Die Tasse ist leer. Soll ich nochmal
eingießen? Habe ich überhaupt noch Tee? Ich beuge mich vor.
Erwische mich dabei, wie ich mit dem Löffel in dem kleinen
Zuckerschälchen herumstochere. Die weiße Substanz auflade,
hochhebe... sie dann langsam zurück in die Schale rieseln lasse.
Fast schon spühre ich ihre Hand, wie
sie auf die Meine patscht – liebevoll, zärtlich, und mit einem
lächeln auf den Lippen.
"Du Spielkind hast dich aber auch
garnicht verändert."
Wie oft sie mich so getadelt hatte...
"Wie der kleine Junge, mit dem ich
früher im Sandkasten gespielt habe"
Die Szene spielt sich vor meinem
geistigen Auge ab. Als wäre sie hier, als stünde sie vor mir. Auf
dem Teppich, den wir damals in Tunesien kauften, als Barbara noch
klein war.
Ach ja Barbara... sie hat sich prächtig
entwickelt. Über Barbara müssen wir auch reden wenn sie hier ist.
Barbara ist längst verheiratet. Sie ist eben einfach nicht mehr das
kleine Mädchen, dass sie einmal war. Sie wird immer mein kleines
Mädchen bleiben.
Nagut, eine Tasse noch...
Ich leere die Kanne. Der Rest füllt
das Gefäß nur halb. Ob Julia einen Tee gemocht hätte?
Ich schüttele den Kopf. Wenn sie einen
mag, kann ich nochmal einen machen. Für mich soll die halbe Tasse
genügen.
Julia hat nie Tee getrunken. Die Frau
von Welt trinkt Kaffee. Ob sie deshalb nie schlafen konnte?
Nein, ich weiß schon, warum sie nie
schlafen konnte.
Ich weiß schon, was sie durchgemacht
hat...
Erst das mit ihrem Vater dann jene
Nacht...
Bis heute hat man nichts gefunden. Die
Polizei hat die Suche längst eingstellt. Vielleicht lebt der Mann
heute auch garnicht mehr.
Meine Mine verfinstert sich. Dann
schüttele ich den Kopf. Nein, das soll heute Abend nicht Thema sein.
Und auch nicht der Großauftrag bei Obi.
Ich denke, jede Geschichte hat ihre
Höhen und Tiefen. Wenn sie nachher kommt, wollen wir über das
Schöne reden.
Ich leere die Tasse in einem großen
Zug. Der Tee ist lauwarm, und ich mag keinen lauwarmen Tee. Die
Glühbirne erhellt den Tisch nur schwach. Aber es reicht. Ich sehe
die Untertasse, ich sehe die Zeitung, die schon seit so vielen Jahren
jeden Tag auf dem Tisch liegt.
Ich sehe ihren Stuhl, der schon so
lange nicht mehr benutzt wurde.
Heute Nacht kommt sie...
Wie ich sie liebe...
Es ist dunkel geworden. Und kalt... Der
Winter lässt die Sonne kaum noch empor. Die Tage werden kurz, und
draussen werden bereits die ersten Lichter aufgehängt.
Weihnachten... wie wir es liebten, zur
Festzeit auf den Markt zu gehn. Dick verpackt natürlich, dass wir
uns nicht erkälteten. Noch heute sehe ich manchmal Barbaras
glänzende Augen, wenn ich vor dem großen Karussell stehe, und ich
erinnere mich, wie auch schon Julia und ich auf den Tieren ritten,
vergnügt, einander an der Hand haltend.
Kinder... Ich spielte Indianer, nahm
das Pferd. Sie liebte den Flamingo, wollte schon immer mal einen
echten sehen.
Das haben wir getan... nicht im Zoo,
nein, sondern damals, als wir nach Afrika flogen. Wow... das waren
Zeiten...
Ich stehe auf. Der klapprige, alte
Stuhl wird es wohl auch nicht mehr lange machen... Aber für heute
reicht er noch.
Die Tasse, den Zucker und die Teekanne
stelle ich in die Küche. Ich wasche sie nicht mehr.
Ich habe keine Zeit.
Ich muss mich fertig machen. Für
Julia.
Heute Nacht besucht sie mich...