Es ist eine Schande. Der fleischgewordene Traum ganzer Generationen treibt vor meinen Augen dahin. Aufgequollen, bleich und träge liegt er im Wasser. Das Gesicht nach unten gerichtet, die Arme hilflos von sich gestreckt wird er von den leichten Wellen auf und ab gewogen. Ruhig und friedlich. Als wäre er nicht mehr, als ein Blatt Papier. Und vielleicht war er das auch nie.
So viel hatten sie ihm zugesprochen. Hatten ihm die Welt zu Füßen gelegt. Der Auserwählte. Kinder beteten nicht für ihn, sondern zu ihm. Die Frauen bewunderten ihn, die Männer blickten voller Neid und Ehrfurcht.
Kein König, nicht hier und erst recht nicht im Norden, hatte sich jemals solch ein Leben erträumt. Solch einen Ruhm, solch einen Reichtum. Sie brachten Geschenke und knieten nieder, schleimten, um seines Wohlwollens wegen.
Sein Charm verzauberte die Massen. Jeder der ihn sah, jeder der ihn hörte, musste ihn lieben.
Jetzt färbt er nur noch das Wasser rot. Die blutige Spur wiegt mit ihm auf und ab. Verteilt sich allmählich über den See. Gegangen ist die Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Eldorado, das zu erschaffen, ihm die Weisen zugesprochen hatten.
Ich sehe zu, wie es allmählich davon treibt. Sein Dolch wiegt sanft in meiner Hand. Mein Atem beruhigt sich. Über mir schweben die ersten Hover. Suchscheinwerfer gleiten durch die anbrechende Nacht.
Der Chip, der jedem bei seiner Geburt implantiert wird, muss es ihnen verraten haben. Erst die Aufregung, das Adrenalin und dann den Tod.
All die Hoffnung dahin. All das Glück der Menschen, ihre Träume, ihre Wünsche. Das fußte auf ihm. Nur ein Stich hatte genügt, die Welt ins Chaos zu stürzen. Die, die gestern noch Schleimten um des Königs wohlwollen, werden seinem Erbe morgen in den Rücken fallen. Werden die Welt in den Krieg stürzen. Der Kampf um seinen Nachfolger wird schon bald entfacht werden.
Aber das ist nicht mein Kampf. Ich habe getan, was ich konnte. Habe getan, was ich musste - für mich.
Ich habe Hoffnung genommen, habe Chaos gesäht. Jetzt kann ich mich nur noch an der Frucht laben, die schon bald erblühen wird. Rache. Auch wenn ich gar keine Rache wollte. Eigentlich wollte ich überhaupt nichts.
Ich müsste fliehen. Die Beweise sind zu eindeutig, niemand würde sich aus einer solchen Position heraus reden können. Aber das weiß ich. Und ich hatte nicht damit gerechnet, zu entkommen. Sie werden mich finden. Und dann werden sie tun, wozu weder er, noch ich selbst in der Lage waren.
Aber das macht mir nichts. Er hatte immer seinen Willen bekommen. Dann soll man ihm seinen letzten Wunsch auch erfüllen. Welcher Hahn kräht schon nach mir? Wen kümmert eine weitere Leiche im See?
Mein ganzes Leben saß ich im Schatten. War er Schandfleck der mächtigen, der voller Dank zusehen durfte, wie Andere die Nationen lenkten.
Keiner traute mir etwas zu. Keiner verstand mich. Keiner beachtete mich. In einer perfekten Welt hatte ich nichts zu suchen. Das hat er mir klar gemacht. Mehr als einmal.
Und nun treibt er auf dem Wasser. Dort, wo eigentlich ich hätte treiben sollen. Steckt das Leben nicht voller Überraschungen?
Ich höre Schreie. Männer erscheinen hinter mir aus den dunklen Nischen der kargen Felswand. Der Scheinwerfer zielt längst auf mich - ein zweiter richtet sich auf den dahintreibenden König. Jetzt ist es zu spät, an Flucht zu denken und das macht mich schon fast glücklich.
"Keine Bewegung! Hände hoch!"
Bewegen werde ich mich nicht. Aber die Hände werde ich auch nicht heben. Dieses Geheimnis nehme ich mit ins Grab. Sollen sie doch rätseln. Wunder vollbringen, das konnte nicht nur er.
"Hände hoch, verdammt!", schreit es hinter mir, und ich bete zu Gott, er möge endlich schießen. Aber Gott treibt vor mir auf dem Wasser dahin. Er hört mich nicht mehr. Er hat mich eigentlich seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört.
Seit sie mit pompösen Klang in unser Dorf marschiert sind. Seit sie ihn auf Händen aus dem steinernen Häuschen trugen, ihn zum Auserwählten machten. Zum König. Zum Gott. Sie schenkten ihm die Welt. Oder vielmehr die Ruinen, die ihre Kriege damals hinterlassen hatten. Seit jenem Tag war er umzingelt von Schleimern und Besserwissern. Er ließ seine Wurzeln hinter sich zurück. Er hatte sich verändert.
Die Männer kommen näher. Eine Hand packt meine Schulter, zieht den Rollstuhl zu sich.
"Das ist der Krüppel!"
Der Mann klingt so herrlich überrascht, dass ich es schon fast auskosten kann. Er sieht das Messer, dass ich noch immer in meiner Hand umklammert halte.
"Du dreckiger Bastard, was hast du getan?"
Seine Hand schnellt panisch an den Lauf seines Gewehrs. Gerade so als erwarte er, dass ich jetzt aufspringen, und auf ihn ein stechen würde.
Zwei seiner Kollegen treten neben ihn.
"Der Krüppel hat den König ermordet?" Niemand mag das glauben. Die Soldaten starren sich an.
"Jetzt blüht sie nicht mehr, eure schöne, schöne Welt."
Ich lache lauthals auf. So sehr dass es mir weh tut. Welch eine schöne Welt, oh ja. Je glücklicher die Anderen wurden, desto unglücklicher wurde ich. Zwei Seiten einer Medallie, und ich habe leider den Schatten erwischt.
"Eure Chips und Wachen und Sicherheitskonzepte und Verteidigungsanlagen und Mauern und Drähte..."
Ich lache immer heftiger. Mein ganzer Körper bebt. Zittert vor Schmerz, der mir aus der Gelähmten in meine empfindsame Seite sticht.
"... all eure Mühen. Zunichte gemacht durch... durch einen Krüppel!"
Eine Faust trifft mich ins Gesicht. Einer der Soldaten meinte wohl, er könne mich damit zum schweigen bringen. Doch ich begrüße den Schmerz, und lache nur noch mehr.
Die Männer werden wütend. Vielleich, weil sie verstehen, dass sie versagt haben. Oder, weil sie erkennen, welche Folgen der heutige Abend haben wird. Vielleicht, weil sie wissen, dass mich zu töten nicht die Genugtuung bringen wird, nach der sie gerade so verlangen.
Aber das Leben läuft nicht so, wie man es sich wünscht. Ich hätte auch lieber weiter mit meinem Bruder im Hof gespielt, statt ihn an Männer zu verlieren, die ihn einer Gehirnwäsche unterzogen, ihm rassistisches und menschenfeindliches Gedankengut implantierten. Ich wäre auch lieber der Bruder geblieben, anstatt der Krüppel zu werden, dessen man sich entledigen musste.
Die Wachen nicken sich zu, und mein Lachen weicht gespannter Erwartung. Denn auch ich verstehe diesen Blick. Habe ihn schließlich oft genug gesehen. Morgen werden wir wieder in unserem Hinterhof spielen. Er wird meinen Rollstuhl nehmen, und wir laufen all meinen Sorgen, Ängsten und Schmerzen davon. Und ich werde wieder der einzige sein, der ihn liebt. Und den er liebt.
12.10.2013
07.10.2013
Teekranz
Heute Nacht besucht sie mich. Meine
Augen glänzen.
Endlich wieder... Wie ich sie vermisst
habe.
Vorsichtig stelle ich die Tasse ab. Ich
liebe es; das klirrende Geräusch, wenn sie auf die Untertasse
trifft. Koste es aus. Koste jeden Moment aus, wie ich jeden Schluck
des Tees ausgekostet habe.
Sie war schon lange nicht mehr hier...
Viel zu lange.
Das will ich ihr sagen. Ich werde ihr
sagen: "Julia, du warst schon viel zu lange nicht mehr hier."
Ich nehm es mir vor. Es soll kein
Vorwurf sein, aber ich will es ihr sagen. Ob ich mich noch dran
erinnern werde wenn sie da ist?
Sie hat es schon früher beherrscht,
mich abzulenken. Damals, als die Aufträge kamen, das Haus schon
sogut wie abbezahlt war, ich den reichen Firmenchefs die Hände
schütteln durfte.
Das Geschäft boomte förmlich.
Betriebe wollten Syncronisiert werden, Dispositionsabläufe
optimiert, Verfahrenstechniken perfektioniert.
Es war so wundervoll... wie unser
kleines Haus am Rand der Stadt. Zweihunderttausend Mark... Was waren
schon zweihunderttausend Mark im vergleich zu den Provisionen? Die
Banken rissen sich um den Kredit. Jede machte mir ein Angebot, eines
Besser als das andere...
Die Tasse ist leer. Soll ich nochmal
eingießen? Habe ich überhaupt noch Tee? Ich beuge mich vor.
Erwische mich dabei, wie ich mit dem Löffel in dem kleinen
Zuckerschälchen herumstochere. Die weiße Substanz auflade,
hochhebe... sie dann langsam zurück in die Schale rieseln lasse.
Fast schon spühre ich ihre Hand, wie
sie auf die Meine patscht – liebevoll, zärtlich, und mit einem
lächeln auf den Lippen.
"Du Spielkind hast dich aber auch
garnicht verändert."
Wie oft sie mich so getadelt hatte...
"Wie der kleine Junge, mit dem ich
früher im Sandkasten gespielt habe"
Die Szene spielt sich vor meinem
geistigen Auge ab. Als wäre sie hier, als stünde sie vor mir. Auf
dem Teppich, den wir damals in Tunesien kauften, als Barbara noch
klein war.
Ach ja Barbara... sie hat sich prächtig
entwickelt. Über Barbara müssen wir auch reden wenn sie hier ist.
Barbara ist längst verheiratet. Sie ist eben einfach nicht mehr das
kleine Mädchen, dass sie einmal war. Sie wird immer mein kleines
Mädchen bleiben.
Nagut, eine Tasse noch...
Ich leere die Kanne. Der Rest füllt
das Gefäß nur halb. Ob Julia einen Tee gemocht hätte?
Ich schüttele den Kopf. Wenn sie einen
mag, kann ich nochmal einen machen. Für mich soll die halbe Tasse
genügen.
Julia hat nie Tee getrunken. Die Frau
von Welt trinkt Kaffee. Ob sie deshalb nie schlafen konnte?
Nein, ich weiß schon, warum sie nie
schlafen konnte.
Ich weiß schon, was sie durchgemacht
hat...
Erst das mit ihrem Vater dann jene
Nacht...
Bis heute hat man nichts gefunden. Die
Polizei hat die Suche längst eingstellt. Vielleicht lebt der Mann
heute auch garnicht mehr.
Meine Mine verfinstert sich. Dann
schüttele ich den Kopf. Nein, das soll heute Abend nicht Thema sein.
Und auch nicht der Großauftrag bei Obi.
Ich denke, jede Geschichte hat ihre
Höhen und Tiefen. Wenn sie nachher kommt, wollen wir über das
Schöne reden.
Ich leere die Tasse in einem großen
Zug. Der Tee ist lauwarm, und ich mag keinen lauwarmen Tee. Die
Glühbirne erhellt den Tisch nur schwach. Aber es reicht. Ich sehe
die Untertasse, ich sehe die Zeitung, die schon seit so vielen Jahren
jeden Tag auf dem Tisch liegt.
Ich sehe ihren Stuhl, der schon so
lange nicht mehr benutzt wurde.
Heute Nacht kommt sie...
Wie ich sie liebe...
Es ist dunkel geworden. Und kalt... Der
Winter lässt die Sonne kaum noch empor. Die Tage werden kurz, und
draussen werden bereits die ersten Lichter aufgehängt.
Weihnachten... wie wir es liebten, zur
Festzeit auf den Markt zu gehn. Dick verpackt natürlich, dass wir
uns nicht erkälteten. Noch heute sehe ich manchmal Barbaras
glänzende Augen, wenn ich vor dem großen Karussell stehe, und ich
erinnere mich, wie auch schon Julia und ich auf den Tieren ritten,
vergnügt, einander an der Hand haltend.
Kinder... Ich spielte Indianer, nahm
das Pferd. Sie liebte den Flamingo, wollte schon immer mal einen
echten sehen.
Das haben wir getan... nicht im Zoo,
nein, sondern damals, als wir nach Afrika flogen. Wow... das waren
Zeiten...
Ich stehe auf. Der klapprige, alte
Stuhl wird es wohl auch nicht mehr lange machen... Aber für heute
reicht er noch.
Die Tasse, den Zucker und die Teekanne
stelle ich in die Küche. Ich wasche sie nicht mehr.
Ich habe keine Zeit.
Ich muss mich fertig machen. Für
Julia.
Heute Nacht besucht sie mich...
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